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Mass halten

Zurück zu den Wurzeln

Mass halten

Nach Prophezeiungen geht der Endzeit eine Periode üppigen Genusses und der überbordenden Sünden voraus. Ein zwinglianischer Aufruf zum Mass.

RALF TURTSCHI Schon die Frühdrucker schlugen sich mit Massen herum, die babylonische Ausmasse anzunehmen drohten, weil jede Schriftgiesserei eigene Masse verwendete. Eine Schrift der Giesserei Didot konnte nicht zusammen mit einer Schrift der Giesserei Bodoni gedruckt werden, die Buchstaben hatten andere Schrifthöhen und Kegelgrössen. Derart bemessen, liessen sie sich nahtlos zusammenfügen und konnten auf einem Niveau gedruckt werden. 1737 entwickelte der Franzose Pierre Simon Fournier das typografische Masssystem, wobei Fournier von zwei Zoll ausging, einen Zoll in zwölf Linien aufteilte und eine Linie nochmals in 6 Punkte teilte. François Ambroise Didot entwickelte das typografische System erst zur Tauglichkeit weiter. Er fand es angemessener, den typografischen Punkt nach dem Fuss- und Landesmass, dem Pied du Roi, zu berechnen, eine damals übliche Art, eine übergeordnete Bezugsgrösse zu schaffen.

Nach heutiger Opportunität müssten wir wohl alle Jahre die Schuhgrösse des aktuellen Bundespräsidenten zur Grundlage nehmen, 39 bei Leuthard, 49 bei Couchepin, was zu erheblichen Differenzen führen würde.

1873 einigten sich die deutschen Schriftgiessereien, zusammen mit dem Kegelmass auch die Schrifthöhe zu übernehmen. 1879 wurde mit dem «Normalkegel» die Buchstabenhöhe einheitlich auf 622/3 Punkt = 23,566 mm festgelegt. Erst im Gefolge der Französischen Revolution wurden metrische Messnormen eingeführt, der typografische Punkt auf den 2660. Teil eines Meters definiert, umgerechnet 0,376065 mm. Der DTP- oder PostScript-Punkt basiert auf 72 Punkt pro Zoll, was eine Adobe- und IT-Grösse von 0,3527 mm zur Folge hat. Die Amerikaner als Letzte im Bund rechnen seit 1886 offiziell mit dem Printers Point auf tiefstem Niveau: 1pp = 0,351366 mm. Wundern Sie sich also bitte nicht, wenn bei diesem Wettbewerb ein A4 auf dem Bildschirm nie ein A4 auf dem Papier ist.

Und überhaupt, ich bin gegen Regeln, gegen DIN und gegen globalisierte Normierung. Sind denn nicht alle gezwungen, nach denselben Kriterien mit denselben Werkzeugen zu arbeiten? Führte dies schliesslich nicht dazu, dass Unmassen von Menschenmassen sich nach eigenem Ermessen anmassen, mit der Comic Sans Flyer, Briefe, Visitenkarten oder andere Druckerzeugnisse gleichbleibend schlecht zu zeugen? Ist doch erstaunlich, wie sie darüber in Verzückung geraten, wie wenn das eigene frisch verschrumpelte Neugeborene zum hübschesten Nachwuchs der Welt erklärt wird. Auch wenn es bei dichtem Haarbewuchs eher einem Orang-Utan ähnelt.

Doch die Nivellierung hat auch Vorteile. Man stelle sich vor, anstelle des französischen Point das englische Pint zu verwenden! Umgekehrt gilt: Wenn monetäre Kreisläufe in typografischen Punkt bemessen würden, gäbe es wegen Rundungsfehlern vom typografischen System übers Dezimalsystem, Binärsystem, Hexadezimalsystem bis zu Unicode und Da-Vinci-Code masslose Buchgewinne. Im Vatikan wäre die Hölle los – die Verlage hingegen würden die Buchgewinne frenetisch feiern.

Es gilt also, das Mass in der Masslosigkeit zu finden, 1 Liter, 2 Liter oder Nulldrei ohne Kohlensäure bitte. Aber wir Menschen wollen ja die Masslosigkeit. Alles extensiv erleben, die extensive Landwirtschaft, mit industrieller Fertigung, die zu geschmacklosen Einheitsprodukten führt, die mit extensiv hergestellten Zusatzstoffen aromatisiert werden, extensiver Konsum von Fertignahrung, eingeschweisste, eingedoste und eingesackte Suchtmittel zum Kotzen, Magersucht, die Nulldiät als extensive Schocktherapie, unterstützt mit extensivem Tablettenschlucken, Jo-Jo, die heimlich häufigste Sportart der Massen, Jugendliche, die sich bis zum Koma dem Alkohol hingeben, Unterhosen über dem Fernseher, das Innere gegen aussen, Luftbelastung, Radikalität im Strassenverkehr, Geisterfahrer, Rennenfahrer, Rechts­überholer an der Migroskasse, plebiszitäre Krankenkasse, Bundespensionskasse und schwarze Löcher, Export/Import von CO2-Kontingenten, sozialer Kontrollverlust, Werteverlust, erotische Lieferschwierigkeiten, Egoismus, Botoxismus, Karikaturenstreit, Pressefreiheit, Fressefreiheit, Sinnsuche, Qi Pong, Pirates, Shiatsushi, Akupunkt, Typopunkt.

Mass halten ist genau deshalb so wichtig. Im Gegensatz zu all den Consultants von McKinsey bis zu Stöhlker, die immer ohne Verantwortung alles besser wissen, wissen wir Gestalter, wovon wir sprechen: Übermässiges Design führt zu Kontrollverlust. Das Mässigende, die Funktion, der Transport des Inhaltes, die Wirkung sind Dinge, die schnörkellos direkt und einfach umzusetzen sind. Grafik-Flipflops, Wilderness und Jahrgänger-Tapetendesign bedeuten Lifestyle und sind nichts als Marketingköder. Das eine schliesst das andere nicht aus. Aber in der Typografie ist Staffage ohne Funktion wie ein unerwünschter Furz im Lift.

Das Ergebnis von industrieller Masslosig­keit kennen wir: Die beiden Pole sind am Abschmelzen, was den Wasserspiegel in manchen Hirnen um ein Petit (altes Fachwort für 8 Punkt) steigen lässt.

Aber keine Sorge: Schon der Bogenspezialist Sinus lehrte im alten Griechenland, dass auf eine Periode der Üppigkeit immer wieder eine Periode der Mässigung folgt, ein ewiges Auf und Ab.

Ich sehe schon mit Freuden ein Wiedererstarken der alten deutschen Schrift, kalligraffitiert an Magnetschwebebahnen. Oder das Revival der gebrochenen Schriften als Tattoo auf Tanten­armen: Arial, durch die natürliche Schwerkraft während Jahren extensiven Zerrens in gotische Länge gekommen. Da winkt ein lukratives Geschäft fürs Altersheim: einfach die gebrochenen Serifen einer Fraktur antattooen.